
Es ist mittlerweile mehr als ein Jahr her. Da beschäftigte mich und meine Kollegen eine Frage. Eine Frage, die alles auf den Kopf stellt: Brauchen wir das wirklich – oder haben wir uns nur daran gewöhnt? Und was ist die Alternative? Es war der berühmte Elefant, der breit und massig im Raum steht, den aber keiner sehen mag. Genauer gesagt: der Elefant stand in unserem Besprechungsraum in der 6. Etage im BMW-Vierzylinder. Es ging um eine Software-Eigenentwicklung. 2012 galt sie als Nonplusultra, als Bollwerk aus Funktionalität und Präzision, geschmiedet und immer weiter entwickelt von einem hoch motivierten Team. Diese Software gehörte einfach zu BMW. Unsere Lösung funktionierte, hatte viel weniger Ausfälle als die Konkurrenz, die User waren zufrieden. Wenn sie etwas wollten, bekamen sie es, die Entwickler waren Vorort und setzen die Anforderungen schnell und unkompliziert um. Aber wie das so ist mit Maßanfertigungen: Wenn sich der Körper verändert, zwickt und zwackt irgendwann selbst der feinste Anzug.
Und so stehen wir an diesem ersten Frühlingstag im Besprechungsraum, diskutieren erregt – und fragen uns: Bauen wir wieder eine Speziallösung, die so passgenau und eng sitzt wie ein Handschuh. Mit anderen Worten: Soll es wieder ein bis ins Letzte ausgereiftes Produkt sein oder genügt womöglich eine gute Standardlösung. Ich sah grübelnd aus dem Fenster. Draußen laufen die ersten Frauen mit Sommerkleidern und Eiswaffeln in der Hand herum. Ich erwische mich bei dem Gedanken: Das könnte ich sein. Weniger Anspannung, mehr Leichtigkeit. Weniger Maßarbeit, mehr Gestaltungsfreiheit.
„Eine Anwendung von der Stange? Wer sind wir denn!“, macht sich Matthias mit Worten Luft. Ich konnte ihn gut verstehen. Hatte ich doch vor Jahren noch genauso gedacht. Als Informatikerin liebte ich selbst zu entwickeln.
Doch Softwareentwicklung ist nicht unser Kerngeschäft. Wir produzieren Autos und wollen diese verkaufen. Und mit der Software, von der wir hier sprechen, wollten wir unsere Informationen in die Welt bringen. Natürlich auf modernste und anspruchsvollste Art. Dass die Kunden begeistert sind.
Deshalb sage ich: „Matthias, brauchen wir wirklich eine Anwendung mit so vielen goldenen Henkeln? Lass es uns mit einer modernen, gut etablierten Standardsoftware versuchen. Es gibt uns die Möglichkeit auch alte unliebsame Zöpfe abzuschneiden. Und Prozesse neu zu denken.“ Und da war er wieder, der verwegene Gedanke: Mut zum Weglassen.
Es ist leicht, die Dinge so zu machen, wie man sie immer gemacht hat. Und das besonders gründlich und mit Hang zum Perfektionismus. Typisch deutsch, könnte man sagen. Und diese Haltung hat auch unzählige Erfolge nach sich gezogen. Nur besteht mit der Zeit die Gefahr, dass man blind für Veränderungen von außen wird. Lief ja bisher immer gut. Außerdem kann man sich prima einrichten in seiner Blase, die von einer extrem anspruchsvollen und ausufernden Aufgabe gebildet wird. Warum hier nicht mal Mut zum Weglassen haben!
Wohlgemerkt: Mit Mut zum Weglassen meine ich nicht Verzicht, sondern die Freiheit, sich bewusst zu entscheiden. Sich von altem zu trennen – und offen zu sein für einen neuen Ansatz. In unserem Fall hieß das: Wir mussten loslassen. Nicht nur eine Software, sondern auch eine Denkweise, eine Vorgehensweise. Perfektion kann trügen. Manchmal ist grade das Unperfekte die bessere Wahl – weil man damit Flexibilität gewinnt, sich Wachstumsmöglichkeiten offen hält und vom Grundsatz „Weniger ist mehr“ profitiert.
Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum ich für eine Standardsoftware in unserem Fall plädierte. Die passt vielleicht nicht exakt auf den ersten Blick. Aber sie wächst mit, ist anpassbar. Und vor allem: Sie nimmt uns Arbeit ab, die nicht zu unserem Kerngeschäft gehört.
Mit unserer aktuellen Software sind sehr komplexe Prozesse mit vielen Schritten und Beteiligten entstanden. Diese Komplexität führt schnell zu Verwirrung und Fehlern, was Zeit und Ressourcen kostet. Wir brauchen einfache, leicht verständliche und schnell umsetzbare Prozesse.
Und der Mut zum Weglassen wird auch anderweitig belohnt. Die Kaufsoftware bringt vieles mit, was wir früher selbst stemmen mussten: Skalierbarkeit, Sicherheit, Weiterentwicklung, Support. Sie bringt positive Erfahrungen aus dem Markt, Erfahrungen von anderen Unternehmen, die genauso kommunizieren müssen wie wir. Und sie bringt etwas, das unbezahlbar ist: Zeit. Zeit, um an den Inhalten zu feilen, statt am Code.
Ich lege nochmal nach: „Matthias, die Software vom Markt gibt unserem Team Freiheit, um sich wirklich um Inhalte und die Kunden zu kümmern. Das wollen wir doch alle!“
Matthias, schaut mich kämpferisch an. Isabella beugt sich zu mir vor und sagt schnell was, um die dicke Luft nicht platzen zu lassen: „Schau Dir an, wie Matthias sich schon schwertut. Und er ist unser erfahrenster Kollege in Bezug auf die existierende Software. Ich verstehe ihn. Diese Software hat unser Denken und Handeln in den vergangenen Jahren geprägt. Doch ich bin auch für die Kaufsoftware. Es wird sich vieles enorm ändern. Das ist klar. Die größte Herausforderung wird, wie wir es den Kollegen erklären.“
Meine Antwort darauf: „Kaufsoftware bedeutet nun mal Veränderung, und das kann Unsicherheit und Angst auslösen. Wir beziehen die Mitarbeiter frühzeitig ein, hören uns ihre Bedenken an und nehmen diese ernst.“ „Ihr müsst uns unbedingt zeitig die Vorteile der neuen Software aufzuzeigen.“ Höre ich Matthias. Wow, denke ich, haben wir ihn schon? „Ich verspreche“ – und dabei hebe ich wie zum Schwur zwei Finger – „Ziele, Zeitrahmen und Verantwortlichkeiten zeitnah festzulegen und offen und transparent zu kommunizieren.“
Wir haben die Software gekauft und sind mittlerweile in dem vorher beschriebenen Veränderungsprozess. Unser größter Kritiker Matthias ist jetzt einer von den BMW Kollegen, die begeistert bei der Migration alter Daten und der Gestaltung der Prozesse mitwirkt. Dafür bin ich sehr dankbar.
Für das, was wir aufgeben, bekommen wir etwas wertvolles Neues. Mut zum Weglassen bedeutet eine gewisse Reife. Den Mut, auf eine gewisse Eitelkeit zu verzichten und dieses enorme Kontrollbedürfnis loszulassen. Wir brauchen Vertrauen – in Standards, in die Expertise anderer, in die Kraft des Einfachen. Genau darin liegt manchmal die größere Innovation.